Leben trotz allem

Eine Reise nach Charkiw und in den Donbass im Mai 2024

Charkiw, im Mai 2024, zwei Wochen nach Beginn der neuerlichen russischen Offensive auf die Stadt. Menschen baden wie gewöhnlich in einer Heilquelle im Park Sarzhyn Yar mitten in der Stadt.

 

Die Ukraine in der zweiten Maihälfte zu durchqueren ist ein grosses Privileg: tagelange Fahrten auf überraschend guten Strassen durch blühende, abwechslungsreiche Landschaften, liebevoll gepflegte Dörfer, üppige Blumenbeete vor bescheidenen Häusern und Grossstädte mit riesigen Parkanlagen und spannender Architektur. Die stets zitierten riesigen Weizen- und Sonnenblumenfelder auf den Schwarzerdeböden sind durchaus nicht so eintönig, wie man vermuten könnte. Verminte und daher nicht bestellte Felder haben wir nur in der Umgebung von Isjum, südöstlich von Charkiw, gesehen. Nach gut 3‘500km und zahlreichen Gesprächen entsteht ein Gesamteindruck, der mit der internationalen Kriegsberichterstattung nicht viel Gemeinsames hat.

Wir haben uns zu dritt auf den Weg gemacht, um eine Minibusladung hochwertigen Bastel- und Zeichenmaterials zu den entsprechenden Initiativen im Donbass abzuliefern. Freunde hatten es in Deutschland gesammelt, auch ein kleiner Stromgenerator war dabei. Dazu kamen ein paar hundert Liter Apfelsaft aus den Karpaten. Unsere Reisespesen übernahm das Europäische Bürger:innenforum, vielen Dank!

Nastya Malkyna und Genia Koroletov sind Künstler aus Luhansk. Sie mussten zweimal flüchten, 2014 und 2022, seither leben sie bei uns in Nischnje Selischtsche am Westrand der Ukraine. Genia und Nastya sind Mitbegründer der «Luhansk Contemporary Diaspora», eines Netzwerks avantgardistischer Künstler. Seit 2022 organisieren die beiden Workshops mit Kindern in und aus den Kriegszonen. Sie ermuntern diese, ihren Lieblingsort zu zeichnen und nehmen die dazugehörigen Geschichten auf. Daraus entsteht eine Sammlung an kleinen Kunstwerken, Erinnerungen und persönlichen Schicksalen.

Auch diese Reise sollte mit einem solchen Workshop in der Kleinstadt Swjatohirsk (Oblast Donezk, 30km von der Front) enden. Leider musste er in letzter Minute abgesagt werden. Die Militärverwaltung hatte kurzfristig jegliche Zusammenkunft von mehr als 3 Personen verboten, eine russische Grossoffensive sei geplant.

Der Dritte im Bunde war zugleich der Fahrer, anschliessend Autor, ansonsten Musiker und Hersteller von Cider und anderen Apfelderivaten bei der selbstverwalteten Kooperative Longo mai in der Ukraine. Unsere unterschiedlichen Hintergründe machten es umso spannender, uns während der Reise über die gewonnenen Eindrücke auszutauschen. Text: Jürgen Kräftner mail

Die Strasse von Kyiv nach Charkiw

Gewöhnung oder Müdigkeit?

Nach 27 Monaten Krieg und keinem Ende in Sicht gibt es eine gewisse Gewöhnung, aber es gibt auch Änderungen. Sophie, eine junge Aktivistin in Charkiw, die häufig mit Soldaten spricht meinte, der Krieg könne noch 100 Jahre dauern. Dieses Gefühl scheint weitverbreitet. Aber wir haben von niemandem den Wunsch nach Kapitulation vernommen.

Die Zerstörungen in der ukrainischen Stromversorgung der vergangenen Monate sind katastrophal. Bereits jetzt gibt es in allen Regionen Abschaltungen von bis zu zwölf Stunden pro Tag. Immerhin werden diese zumeist angekündigt, manchmal sehr kurzfristig. Am ersten Abend unserer Reise waren wir bei Freunden in Kyiv zu Gast, sie wohnen am linken Dnjepr-Ufer im 14. Stock. Das Treppensteigen bei Stromausfall war für uns eine willkommene Abwechslung nach der Autofahrt, gebrechliche Menschen haben das Nachsehen. Zum Glück reicht bei ihnen der Druck in der Wasserleitung auch bei Stromausfall, somit bleiben die Toiletten benutzbar, das ist nicht überall so. Den meist nächtlichen Luftschutzalarm ignorieren unsere Freunde schon lange. Kyiv ist ja vergleichsweise gut geschützt, aber Trümmer von Raketen oder Drohnen können auch grössere Schäden verursachen - und Menschen töten. Wie die Ukraine den kommenden Winter mit nur einem Drittel der benötigten Stromleistung überstehen soll, darüber wird derzeit viel spekuliert.

Blick aus dem Fenster bei unseren Gastgebern in Kyiv

Noch aktueller war bei unserer Reise das gerade erst in Kraft getretene Mobilisierungsgesetz. Alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden ab dem 18. Mai verpflichtet, sich binnen zweier Monate bei den Rekrutierungsstellen zu melden. Dort wird festgestellt, ob sie wehrtauglich sind oder ob es einen anderen Grund gibt, aus dem sie nicht eingezogen werden sollten. Wer dies nicht tut, macht sich strafbar, seine Rechte werden eingeschränkt. Es gibt weiterhin Millionen von potentiell wehrpflichtigen Ukrainern, die bisher nicht von der Armee registriert sind, de facto verstecken sie sich. Bei einer Kontrolle laufen sie Gefahr, unmittelbar eingezogen zu werden. Viele Männer empfinden für sich persönlich die ukrainische Militärpolizei als die grössere Gefahr denn die russische Armee, sie gehen kaum aus dem Haus. Der Vater eines Schulkollegen meines Sohnes ist beim Versuch ertrunken, den Grenzfluss Theiss zu überqueren, er ist damit einer von vielen. Andererseits machen auch viele Männer von der Möglichkeit Gebrauch, sich freiwillig bei Einheiten mit gutem Ruf zu melden um dort entsprechend ihrer persönlichen Qualifikation geschult und eingesetzt zu werden. Somit vermeiden sie, willkürlich und chaotisch nach einer kurzen Ausbildung an die Front geschickt zu werden, um dort Löcher zu stopfen.

Charkiw

Die Millionenstadt war unser erstes Reiseziel, wir erreichten sie nach einer zweitägigen Reise mit einer guten Zeitreserve vor der abendlichen Ausgangssperre. Die Russen hatten wenige Wochen zuvor einen Grossangriff auf das Gebiet nördlich von Charkiw gestartet und in wenigen Tagen fast 200 Quadratkilometer besetzt. Bei unserer Ankunft in der Stadt machte sich dies unter anderem dadurch bemerkbar, dass unser GPS-gesteuertes Navigationssystem verrückt spielte.

Charkiw mit seinen über 2 Millionen Einwohnern, nur ca. 30km von der russischen Grenze entfernt, hat in der Ukraine eine Sonderstellung und es gibt - oder gab - viele Vorurteile: Die Stadt sei noch korrupter als alle anderen, sie sei pro-russisch und die Bevölkerung arrogant. Andererseits gelten die dortigen Universitäten besonders in den technischen Berufen und Naturwissenschaften als die besten des Landes und zum Beispiel in den Bereichen der Architektur und der Photographie hat die Stadt eine Vorreiterrolle.

Vor unserer Weiterfahrt von Kyiv haben wir dort noch Anna Nahorna getroffen, sie stammt aus Charkiw und lebt auch dort.

Nach Kriegsbeginn hat sie ihren Beruf als Marketingmanagerin an den Nagel gehängt und mit Freundinnen die NGO Mental Recovery ins Leben gerufen. Wenn sie von ihrer aktuellen Arbeit und der Freiwilligenbewegung in Charkiw erzählt, strahlt sie förmlich vor Überzeugung und Begeisterung. Die Netzwerke von Freiwilligen in Charkiw übertreffen nach ihrer Aussage an Dynamik alles, was es in der Ukraine gibt. Auch die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und Einsatzdiensten mit den privaten Initiativen verlaufe sehr effizient, da die Stadtverwaltung schnell begriffen hat, dass sie ohne die NGOs völlig überfordert wäre. In den ersten Kriegsmonaten hat Anna Menschen geholfen, die aus den russisch besetzten Gebieten flüchteten. Schon dort, an den sogenannten Filtrationspunkten, arbeiteten alle zusammen, Sozial- und Geheimdienst, kleine und grosse NGOs. Mit der Zeit gelangte das Frauenteam rund um Anna und ihre Kollegin Sophie (die wir in Charkiw noch trafen) zur Überzeugung, dass die Betreuung und Behandlung von kriegstraumatisierten Menschen sofort einsetzen müsse, damit nicht immer mehr zu seelischen Krüppeln würden, wie sie sie nennt. Systematisch suchen sie vor allem Frauen und Kinder mit den härtesten Schicksalsschlägen, vor allem nach dem Tod der Familienväter oder anderer naher Angehöriger. Mit ihrem Team organisiert sie Erholungslager in den Karpaten mit intensiver psychologischer und psychiatrischer Betreuung. Sie ermöglicht diesen Menschen, auch nach den Camps psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen und vertritt die Meinung, dass diese sogar verpflichtend sein sollte.

Als eine unserer wichtigsten Aufgaben sehen wir es an, die Psychotherapie zu destigmatisieren. Die Menschen haben richtiggehend Angst davor. Aber es ist sehr wichtig, dass diese Familien auch nach dem Camp noch therapeutisch betreut werden, also zumindest noch an zehn Sitzungen teilnehmen. Dazu müssen wir in erster Linie das Vertrauen der Familien gewinnen. Wir denken auch an gemeinsame Ausflüge. Unsere Familien kommen vorwiegend aus der Region Charkiw. Aber derzeit sind Treffen in oder nahe der Stadt nicht sicher. Wir planen daher, weiter ins Landesinnere zu fahren. Wir dürfen vor allem die Kinder nicht in Gefahr bringen, in der Region Poltawa gibt es wunderschöne Orte, es ist nicht weit, aber sicher.

Die Berichte von den Erfolgen aus den zweiwöchigen Camps mit jeweils 25 Kindern und 25 erwachsenen Angehörigen sind sehr ermutigend. Wir beobachten sehr genau, wie sich die Kinder während der Camps und danach verändern. Sie beginnen, miteinander zu kommunizieren, und wenn alles gut geht, dann kehren sie zu einem mehr oder weniger geregelten Lebensrhythmus zurück. Wir hatten einige Kinder, die gemeinsam in Flüchtlingsunterkünften wohnen. Während des Camps haben sie begonnen miteinander zu reden, und das bleibt dann auch.

Kinder im Mental Recovery Camp in den Karpaten, Mai 2024 Quelle: instagram. Dieses Camp wurde massgeblich vom Netzwerk Schweiz - Transkarpatien/Ukraine NeSTU finanziert.

Über die Menschen, die weiterleben als ob nichts wäre und den Bedarf an Dialog:

Ich habe viele Kolleginnen und Freundinnen aus meinem früheren Leben, sie leben fast genauso wie früher. Ich urteile nicht über sie, es soll auch Menschen geben, die nach wie vor einen fast normalen Lebensrhythmus haben. Für sie ist alles ok, die Cafés und Restaurants sind geöffnet, man kann Essen und Waren online bestellen, einfach arbeiten und Geld verdienen. Aber wir brauchen unbedingt mehr Dialog. Dialog zwischen den Freiwilligen, Aktivisten und denjenigen, die an ihrem normalen Leben festhalten, egal wie, und Dialog zwischen den Aktivisten, den Leuten, die sich aufs Spenden beschränken und den staatlichen Institutionen. Denn viele Probleme kommen daher, dass jeder in seiner Blase lebt.

Spielplatz in einem Aussenviertel von Charkiw im Mai 2024

Unsere Gesellschaft ist in Gefahr, in verschiedene Gruppen auseinanderzubrechen, die sich nicht verstehen. Die Kriegsveteranen kommen mit ihren Traumata zurück, und sie fühlen sich komplett unverstanden, sie können sich niemand anvertrauen.

Betreffs der Leute, die unter der Okkupation gelebt haben und vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad kollaboriert haben, haben wir nach der Befreiung der Gebiete östlich von Charkiw und in Cherson schon gute Erfahrungen gesammelt und ich würde sagen, dass unsere Gesellschaft dies ziemlich gut gemeistert hat. Natürlich gibt es unangenehme Fragen, warum seid Ihr nicht geflüchtet, als es möglich war, warum habt Ihr den einen oder anderen Beruf weiter ausgeübt. Aber mir scheint, insgesamt gab es eine relativ grosse Toleranz.

Nika, 16 Jahre, war im Juni 2023 an einem Camp von Base_UA in Nyzhne Selyshche, sie lebt weiterhin mit ihrer Mutter in Charkiw, aber viele ihrer Freundinnen sind weg und sie überlegt auch, die Stadt zu verlassen. Die verschiedenen Raketen und Drohnen erkennt sie am Geräusch.

In Teufels Küche

Charkiw besuchten wir zuerst die Freiwilligenküche «Hell’s Kitchen». Der Begründer Ihor Horoshko hat während 27 Jahren in der Softwareentwicklung gearbeitet, zuletzt war er Chef einer IT-Firma mit Hauptsitz in Charkiw und Filialen in Kyiv und Prag. In einem Schutzraum kam er während den ersten Kriegstagen zufällig mit einer professionellen Köchin ins Gespräch, gemeinsam mit einem befreundeten Logistiker starteten sie kurz darauf die «Hell’s Kitchen». Die erste Küche und Bäckerei entstand in Vovchansk nördlich von Charkiw, sie wurde bei der russischen Offensive vom Mai zerstört. Seit Kriegsbeginn haben Ihor und seine Frau ganze fünf Tage frei genommen. Gemeinsam mit einem Freiwilligenteam aus der ganzen Welt kochen sie 1000 - 2000 Mahlzeiten pro Tag, sie versorgen Spitäler, Soldaten an der Front und andere Bedürftige. Nach dem russischen Angriff vom Mai sind die Bedürfnisse in den Spitälern, die verwundete Soldaten und Zivilisten behandeln, sprunghaft angestiegen.

Ihor und Svetlana Horoshko, Begründer der Hell’s Kitchen in Charkiw

Die Küche ist eng, aber gut ausgestattet. Die besten Geräte wurden aus Sammlungen der ausländischen Freiwilligen finanziert.

Eindrücklich an Ihor ist seine freundliche Entschlossenheit. Er will Charkiw nicht verlassen und weiss, dass er eine russische Besetzung nicht überleben würde. Andererseits ist er überzeugt davon, dass die Russen Charkiw weder einnehmen noch einkesseln können. Sanft kritisiert er das unvorsichtige Verhalten vieler Leute, die Charkiw während den ersten Kriegsmonaten verlassen haben und später zurückgekommen sind, er schätzt ihre Zahl auf eine Million. Da sie den täglichen Beschuss nicht erlebt haben, ist für sie die Bedrohung zu abstrakt. Diejenigen hingegen, die lange genug unter dem Beschuss gelebt haben, hätten die nötigen Reflexe verinnerlicht, sie halten sich auch nicht unnötig im Freien auf.

Ihor ist offenbar unermüdlich und führt mit einigen Gleichgesinnten gleichzeitig noch weitere Projekte: In einer Autowerkstatt reparieren sie die Fahrzeuge der Freiwilligenorganisationen, Ambulanzen und PKWs der Soldaten. Die Armee kümmert sich nicht um diese Autos.

Erst vor kurzem haben sie mit fachkundigen Ingenieuren aus Charkiw einen Prototypen eines Minenräumroboters, ein kleines Raupenfahrzeug, konstruiert. Das Gerät ist für die Räumung von Antipersonenminen konzipiert und ist mit einem Stückpreis von 20’000€ ausserordentlich günstig. Es soll bald in Serie produziert werden - in Charkiw.

https://www.volunteeringukraine.com/en/volunteer-opportunities/hells-kitchen

Solche batteriebetriebenen Minenräum-Roboter sollen in Charkiw bald in Serie produziert werden.

 

Ein ungeplantes Treffen

Nina Ivanivna, 70 Jahre, davon 47 Jahre lang Russischlehrerin, entspricht einigen der gängigen Vorurteile über die Bewohnerinnen von Charkiw. Sie ist eine resolute Frau, die Hälfte ihrer Familie lebt in Russland, und natürlich spricht sie ein - noch dazu literarisches - Russisch. Bis zum Kriegsbeginn lebte sie in der Plattensiedlung Saltivka am Nordostrand von Charkiw, erbaut in den 1970er Jahren. Früher lebten hier gut 400'000 Menschen. Während der russischen Besetzung der Gebiete östlich von Charkiw 2022 war Saltivka für die russische Artillerie ein erreichbares Ziel und wurde auch mit Raketen massiv beschossen, ein Grossteil der Bevölkerung ist damals geflüchtet, es gab aber auch zahlreiche Opfer.

Nina Ivanivna bei unserer ersten Begegnung im Innenhof ihres Wohnblocks

Nina Ivanivna hatte von der Familie noch eine Wohnung im Stadtzentrum und ist dorthin übersiedelt. Ihr Wohnblock in Saltivka (er liegt an der “Strasse der Völkerfreundschaft”) wurde kurz darauf von einer Rakete getroffen, einige Wohnungen fehlen jetzt. Auf die zerbombten Aussenwände hat jemand mit grossen Buchstaben antirussischen Parolen gemalt.

Wir haben für unseren Aufenthalt eine Wohnung im Zentrum von Charkiw gemietet, das schien uns sicherer. Bei unserer Ankunft hat sich herausgestellt, dass in den Innenhof seit Kriegsbeginn bereits drei Raketen eingeschlagen haben. Nina Ivanivna, unsere Nachbarin, ist trotzdem guter Dinge. Sie pflegt die Blumenbeete und betreut ältere Nachbarinnen, die etwas weniger mobil sind als sie. Zu ihren Angehörigen in Russland hat sie den Kontakt abgebrochen. Nachdem im Sommer 2022 nur mehr eine halbe Million Einwohner in Charkiw lebten, seien es inzwischen wieder 1,5 Millionen, etwa 70 Prozent der Vorkriegsbevölkerung, erklärten uns Einheimische.

Charkiw-Saltivka, Strasse der Völkerfreundschaft. Hier wohnte Nina Ivanivna früher. Jemand hat seinem Hass auf “die Russen” in grossen Buchstaben Ausdruck verliehen.

 

Vermutlich wohnen hier auch noch Menschen

Nastya und Nina Ivanivna vor einem ihrer Blumenbeete. Das Aquarell stammt von ihrem verstorbenen Mann, Nina hat es uns zum Andenken geschenkt. In diesem Wohnblock waren nach dem Raketenbeschuss vom Dezember 2022 alle Fenster kaputt, zum Glück kam niemand ums Leben. Ein tschechisches Hilfswerk hat die Fenster ersetzt, mit dreischichtigem Isolierglas. Aber viele Wohnungen stehen leer, dort wurden die Fensteröffnungen mit OSB-Platten verschlossen.

Am Tag unserer Weiterreise schlugen in der Nähe unserer Unterkunft mehrere Raketen ein. Eine davon im unmittelbar benachbarten Stadtpark, drei andere zerstörten eine der grössten Buchdruckereien der Ukraine, sieben Menschen starben und mehrere zehntausend Schulbücher verbrannten. Nichts ist daran zufällig. 2022 haben die russischen Okkupanten in der nahen Stadt Isjum den Kinderbuchautor Volodymyr Wakulenko ermordet. Die Schriftstellerin Viktoria Amelina fand später im Garten des Autors dessen verstecktes letztes Manuskript und veröffentlichte es, kurz bevor sie selbst in Kramatorsk von einer russischen Rakete getötet wurde. Beide veröffentlichten im Verlag Vivat, und ihre Bücher wurden in der nun zerstörten Druckerei «Faktor Druk» gedruckt.

Bewegung Freies Charkiw - Рух Вільний Харків

Yevhen Byelov ist ein junger Unternehmer und Besitzer eines Erholungszentrums mit Sauna und türkischem Bad, das er nach Kriegsbeginn geschlossen hat. Seither ist er Koordinator der Freiwilligenorganisation “Bewegung Freies Charkiw”. Binnen einer halben Stunde hat er uns zusammengefasst, was sein Team in den letzten zweieinhalb Jahren geleistet hat, und das ist wahrlich eindrücklich. Charkiw stand unmittelbar nach Kriegsbeginn unter grosser Gefahr, die Russen gelangten bis in die Vororte. Die Stadt war zur Hälfte umzingelt und wurde beschossen. Die Freiwilligen haben zu diesem Moment die Versorgung ganzer Stadtteile anstelle der öffentlichen Dienste übernommen: Warme Mahlzeiten und humanitäre Hilfe für Bedürftige, Einrichtung von Luftschutzräumen, Flüchtlingshilfe.

Yevhen Byelov, Koordinator der Bewegung Freies Charkiw

Es gab ein ganzes Netzwerk von Restaurants und anderen Grossküchen. Wir lieferten ihnen Lebensmittel und holten fertige Mahlzeiten ab. Als nächstes haben wir Menschen aus den damals besetzten Gebieten bei der Flucht geholfen. Nach der Befreiung dieser Gebiete (im September 2022) haben wir geholfen, dort zerstörte Wohnhäuser zu reparieren.

Wovon leben die Freiwilligen?

Ein Teil der Freiwilligen hat weiterhin einen festen Job und lebt davon und widmet sich unserer gemeinsamen Arbeit in der übrigen, freien Zeit. Manche Leute, so wie ich, haben keine feste Arbeit mehr und unsere NGO unterstützt sie, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

Unsere Priorität ist seit einiger Zeit die humanitäre Hilfe in den befreiten Gebieten (östlich von Charkiw). Seit der neuen russischen Offensive helfen wir den BewohnerInnen der betroffenen Gebiete bei der Flucht, wir evakuieren auch viele Haustiere. Das dritte Arbeitsfeld sind Reparaturen der Wohnungen nach russischem Raketenbeschuss. Wir erfahren unmittelbar, wenn eine Rakete eingeschlagen hat und fahren dorthin. Wir leisten medizinische Hilfe und sichern die Gefahrenzone. Wir ersetzen die zerborstenen Fenster provisorisch durch Spanplatten oder Plastikfolien, und räumen die Trümmer weg. Wir arbeiten in Koordination mit den Rettungsdiensten der Stadt.

Der berühmte Derschprom-Gebäudekomplex im Zentrum von Charkiw stammt aus den 1920er-Jahren. Von 1918 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik.

Wir haben derzeit noch andere Projekte. Wir richten ein Spital für die Einsatzkräfte des Katastrophenschutzes ein. In unserer Oblast sind derzeit über 7000 Männer und Frauen im Einsatz. Sie brauchen eine Einrichtung, die auf ihre besonderen Bedürfnisse ausgerichtet ist, mit spezialisierten Ärzten und der entsprechenden Ausrüstung, die gibt es derzeit nicht. Die Kosten betragen etwa 50 Millionen Hryvna (1,2 Mio €). Die Bauarbeiten werden teilweise auch von Freiwilligen ausgeführt.

Und hier in diesem Areal (wir befanden uns in einem Stadtpark im Zentrum) gibt es ein städtisches Jugendzentrum. Gemeinsam planen wir Kurse für Kinder. Sie lernen, wie sie sich bei Raketenbeschuss verhalten sollen, und wie sie sich nicht mit Minen und anderen explosiven Teilen in Gefahr bringen. Wir arbeiten auch mit den Eltern. Das Gebäude, das wir in Zukunft für diese Kurse benützen wollen, ist nach einem Raketenbeschuss stark beschädigt, wir beginnen jetzt mit der Renovierung. Dort gibt es alle nötigen Räume und vor allem sichere Keller.

In Charkiw sind derzeit fast alle Kinder im Online-Unterricht. Es gibt eine Schule in der U-Bahn, zwei unterirdische Schulen sind im Bau.

Fassaden im Stadtzentrum. Die Raketen schlagen meist vor dem Alarm ein, die Distanz ist zu gering. Besonders gefährlich ist der nochmalige Beschuss, 20 - 30 Minuten nach der ersten Rakete, wenn die Rettungskräfte bereits vor Ort sind.

Mit der russischen Offensive von Anfang Mai mussten wir unsere Arbeit umstellen. Jetzt helfen wir vor allem Menschen aus den Frontzonen bei der Flucht. Die Abläufe sind gut koordiniert, jeder hat seine Aufgabe. Zunächst werden die Menschen aus der unmittelbaren Gefahrenzone an Sammelstellen gebraucht, von dort werden sie mit grossen Bussen ins Stadtzentrum gebracht, wo sie etwas Geld und was sie sonst brauchen bekommen und in vorläufige Unterkünfte weitergeleitet werden. In den letzten Tagen haben wir auch viele Haustiere evakuiert. Manche Leute wollen ihre Tiere auch auf der Flucht behalten, für andere ist das nicht möglich.

Und wie fühlen Sie sich, nach mehr als zwei Jahren Krieg?

Bei mir ist alles ok. Ich bin etwas müde und würde mich gerne etwas erholen. Ich habe seit Kriegsbeginn keinen freien Tag gehabt. Aber wenn ich aus dem Haus gehe und weiss, was ich zu tun habe, dann ist die Müdigkeit weg. Ich kann mich nicht ausruhen, wenn ich weiss, dass die Leute im benachbarten Wovtschansk gerade bombardiert werden. Mein ganzes Team funktioniert so.

Was sind Ihre dringendsten Bedürfnisse?

Wir suchen Projektmanager. Die müssen nicht unbedingt hier leben. Aber wir wollen unsere Arbeit ausweiten und suchen den Kontakt zu den grossen Geldgebern, und dafür brauchen wir qualifizierte Leute, die Projekte formulieren und die Berichte verfassen können.

Wir haben Yevhen und sein Team zur Erholung nach Transkarpatien eingeladen, wann immer sie dafür Zeit finden.

  

Reise von Charkiw in den Donbass

Die Überlandstrasse bei Dolyna, zwischen Isjum und Slowjansk. Die Wiesen sind häufig vermint. Diese Video zeigt in etwa das Bild, das sich auch uns bot, nur die Jahreszeit ist eine andere.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg Richtung Südosten, in den Donbass. Unterwegs hörten wir vom Beschuss der Druckerei Faktor-Druk. Auf der Überlandstrasse sahen wir mehr Armee- als zivile Fahrzeuge, vor allem in der Gegenrichtung. Offenbar wurden weitere Einheiten aus dem Donbass an die Front bei Charkiw verlegt. Nach etwa 50km gelangten wir in das Gebiet, das 2022 während ca. sechs Monaten von den Russen besetzt war. Hier ist die ganze Wucht des Kriegs zu sehen. Ganze Dörfer sind zerstört und menschenleer. Wir sahen zahlreiche Minenräumgeräte im Einsatz, und viele Warnschilder, bloss nicht die Strasse zu verlassen. An einem Kontrollposten in Isjum wurden wir aufgehalten, und ein älterer Soldat fragte uns, ob wir seinen jungen Kameraden bis nach Kramatorsk mitnehmen könnten, dessen Auto sei kaputt. Natürlich willigten wir ein. Unser neuer Reisegefährte war ein junger, sympathischer Mann, der auf sanfte Art von seinen Erfahrungen berichtete. So hatten wir für diesen Streckenabschnitt einen militärischen Reiseführer. Viele seiner Kampfgenossen waren hier ums Leben gekommen, er zeigte uns die Stellen und erzählte, was passiert war. Stanislav ist bereits seit 2014 im Krieg, er sagte, er sei wohl dafür geboren worden. Ursprünglich stammt er aus der Zentralukraine, jetzt ist er Teil einer Eliteeinheit. Seine Frau ist in die Nähe der Front gezogen.

An der Oblastgrenze zwischen Charkiw und Donezk bestand Stanislav auf einem Erinnerungsfoto.


Kostjantynivka

Via Kramatorsk fuhren gleich weiter nach Kostjantynivka. In Friedenszeiten zählte die Stadt 70’000 Einwohner. Die Front ist nur etwas mehr als 10km entfernt, aber mehr als die Hälfte der Bevölkerung harrt hier aus. Unser Ziel war die örtliche Musik- und Kunstschule. Die junge Direktorin Alina machte zunächst einen sehr genervten Eindruck, doch nach nur wenigen Minuten taute sie völlig auf. Zu Beginn des Kriegs ist sie mit ihrer Familie in die Westukraine geflüchtet. Im Herbst 2022 kam sie zurück, um Winterkleidung aus ihrer Wohnung zu holen - und entschied sich, zu bleiben. Obwohl sie in einem Hochhaus lebt und sich des Risikos so nahe der Front durchaus bewusst ist, will sie nur im äussersten Notfall wieder weg.

Die Kunstschule von Kostjantynivka, bloss 10km Luftlinie von Tschassiw Yar entfernt, einem der heissesten Frontabschnitte.

Tschassyw Yar im Juni 2024. Die Stadt gilt seit Monaten als “graue Zone”, es kommt zu Strassenkämpfen.

Alina: Unsere Kunstschule bietet immer noch 400 Kindern Unterricht, bis auf seltene Ausnahmen - online. Es gibt auch viele Kinder, die mit ihren Familien ins Ausland geflüchtet sind, und die weiterhin online bei ihren bisherigen Lehrern oder Lehrerinnen Unterricht nehmen. Vor dem Krieg waren es doppelt so viele Schüler und Schülerinnen. In unserem Keller organisieren wir mehrmals in der Woche kleine Filmvorführungen, Malateliers etc, wo die Kinder sich im echten Leben treffen können.

Alina, dritte von links, hofft, dass der Krieg sie nicht nochmals aus ihrer Heimat vertreibt.

Luftschutzkeller der Kunstschule von Kostjantynivka. Von Alina erfuhren wir, dass hier fast täglich Anlässe für Kinder und Jugendliche stattfinden: Film- und Trickfilmvorführungen, Workshops, Ratespiele…

Wie alle Einrichtungen, die wir besucht haben, ist auch die Kunstschule von Konstjantynivka ein Verteilerzentrum für humanitäre Hilfe und administrative Hilfe für Geflüchtete. In der Stadt leben zahlreiche Geflüchtete aus den nahen besetzten Gebieten wie zum Beispiel Bachmut und aus den Orten unmittelbar an der Front.


Druzhkivka

Bei unseren Treffen im Donbass ging es vor allem darum, Initiativen zu unterstützen, die mit Kindern arbeiten. Trotz der Gefahr des nahen Krieges und der häufigen Raketenbeschüsse leben hier weiterhin hunderttausende Familien mit Kindern. Die Schulen sind seit Jahren im Online-Modus (auch schon zu Covid-Zeiten), auch die meisten ausserschulische Aktivitäten finden per Videoschaltung statt, zum Beispiel der Musik- und Tanzunterricht. Die zweifelhafte Qualität des Unterrichts ist dabei nicht das grösste Problem. Schlimmer ist der Mangel an menschlichen Kontakten zwischen den Kindern. Genia, Nastya und ihre Kollegin Anja suchen Orte, an denen sie Workshops mit Kindern durchführen können. So kamen wir auch in die städtische Bibliothek von Druzhkivka, und wurden überaus freundlich empfangen. Druzhkivka ist berühmt für seine Sonnenblumenhalva und sein Porzellan.

Solche Fotos hängen in der Bibliothek von Druzhkivka an der Wand.

Jugendbibliothek von Druzhkivka, irgendwann vor 2022.

Olha Volodymyrivna und ihre Kollegin Alina von der städtischen Bibliothek in Druzhkivka. Hierher kommen häufig Schriftsteller, Musiker oder Theatergruppen aus Kyiv und anderen Regionen für gut besuchte Veranstaltungen.

Kramatorsk

Kramatorsk ist seit der Besetzung der Stadt Donezk das administrative Zentrum der gleichnamigen Oblast. Die Stadt gleicht einer einzigen, grossen Garnison, es wimmelt vor Soldaten, die sich in allen nur erdenklichen Fahrzeugen fortbewegen. Dazu kommen zahlreiche ausländische Freiwillige, das merkt man vor allem in den Kaffees im Zentrum. Bei einem gezielten Raketenbeschuss eines dieser Lokale kamen am 27. Juni 2023 die ukrainische Schriftstellerin Viktoria Amelina und zwölf weitere Personen ums Leben. Ein einheimischer Zuträger hatte seinem russischen Mittelsmann fälschlich berichtet, dass sich in der Ria-Pizzeria zu diesem Zeitpunkt viele Militärs befänden. Der Mann wurde gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Terykon

Nicht weit davon besuchten wir das neu eingerichtete Jugendzentrum Terykon (dt. Bergehalde) der Freiwilligenorganisation Base_UA. https://baseua.org/kids/

Unsere Freundin Sasha (Oleksandra Chernomashyntseva) ist eine junge Film- und Theaterfrau, die ihr Studium in Prag zu Kriegsbeginn 2022 zugunsten der Freiwilligenarbeit mit Base_UA abgebrochen hat. Sie ist eine der treibenden Kräfte von Terykon. Im Unterschied zu den anderen Einrichtungen, die wir gesehen haben, ist Terykon gut ausgerüstet und auch der Luftschutzkeller bietet eine halbwegs angenehme Athmosphäre. Dort gibt es sogar ein kleines Fotolabor. Allerdings erfuhren wir von ihr, dass die regionale Militärverwaltung am Vortag alle öffentlichen Zusammenkünfte von Menschen wegen einer erhöhten Bedrohung durch russische Angriffe verboten worden waren. Terykon wurde erst im vergangenen Winter eröffnet, inzwischen kommen regelmässig über 100 Kinder aus der Umgebung hierhin.

Ähnlich, und noch gediegener fanden wir das neue Lokal der Initiative Tato-Hub. Sie sind in eine früheren Bankfiliale eingezogen. Die dicken Wände aus Stahlbeton bieten einen guten Schutz vor russischem Beschuss.

Workshops und psychologische Betreuung für Kinder und Erwachsener im Tato-Hub auf täglicher Basis

Sasha leitet das Tato-Hub. Auch hier wird humanitäre Hilfe aus ganz Europa an Bedürftige verteilt. In Kramatorsk haben sich Familien angesiedelt, die früher in Bachmut und anderen zerstörten und besetzten Orten weiter östlich lebten. Neu bekommen sie eine Entschädigung von 500$ pro Quadratmeter Wohnfläche, die sie verloren haben. Von diesem Geld leisten sich manche Wohnungen nicht weit von ihrer früheren Heimat. Die Auszahlungen haben allerdings erst in Einzelfällen begonnen.

Swjatohirsk

Diese Kleinstadt nordlich von Kramatorsk und Slowjanks ist zumindest in der Ukraine berühmt für die schöne Landschaft und ein grosses Kloster, eigentlich ist es eine Art Kurort. Sie hat meine letzten Vorurteile über den Donbass zerstört. Zerstört sind allerdings auch grosse Teile der Stadt, denn hier wurde 2022 heftig gekämpft. Im Sommer 2022 war das Gebiet während drei Monaten in russischer Besetzung. Nastya, Anja und Genia wollten hier in einem Kulturzentrum ein zweitägiges Workshop für die einheimischen Kinder durchführen. Das mussten sie in letzter Minute absagen, wegen des Verbots von der regionalen Militärverwaltung.

Ein kleines Hotel in Svyatohirsk bzw. was davon übriggeblieben ist.

Lyman

Die Kleinstadt im äussersten Nordosten der Oblast Donezk war unser letztes Ziel im Donbass. Auch hier leben weiterhin Familien und Kinder, und ein örtliches Jugendzentrum bietet den Kindern verschiedene Aktivitäten. Dorthin wollten wir Mal- und Bastelmaterial liefern. Die Verschärfung des Kriegsgeschehens machte uns einen Strich durch die Rechnung. Beim letzten Kontrollposten ca. 5km vor der Stadt kamen wir nicht mehr durch. Die kontrollierenden Soldaten waren ausgesprochen höflich und sogar freundlich, aber die Weisungen waren klar: Keine fremden Zivilisten durften in die Stadt.

Auf dem Foto zu sehen ist der Wald neben dem Kontrollposten, bzw. was davon nach den Kämpfen von 2022 übrig geblieben ist. Nach der Befreiung wurden in Lyman zahlreiche Gräber von ermordeten Zivilisten gefunden.

Wir haben die Hilfslieferung für Lyman dann per Kurier geschickt und sie ist gut angekommen.

Previous
Previous

Vivre malgré tout